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Ist der Begriff „Klasse“ heute noch zeitgemäß ?

an der marxistischen theorie wird häufig kritisiert, dass sie zwar durchaus richtige einsichten für historische und sozialökonomische vorgänge liefert. sie würde aber die fähigkeit des menschen, sich über „kollektive“ zu definieren und dementsprechend zu handeln, heillos überschätzen. ausserdem seien in „modernen“ gesellschaften die menschen so weit „individualisiert“, dass man ihr politisches verhalten unmöglich allein über ihre stellung im ökonomischen system bestimmen kann. was ist dran an diesen kritiken?

zunächst einmal soll in der marxistischen theorie der begriff „klasse“ nichts anderes ausdrücken als eine bestimmte stellung zu den produktionsmittelen, also ob man privateigentum an produktionsmitteln hat oder nicht. dies ist durchaus keine kleinigkeit! denn die verfügung über die produktionsmittel bedeutet ja in letzter instanz nichts anderes als die verfügung über die mittel, die zum LEBENSERHALT NOTWENDIG sind. und wenn man also kein privateigentum an produktionsmitteln hat, ist man darauf angewiesen, seine arbeitskraft zu verkaufen, um den notwendigen lebensunterhalt zu sichern. wenn man keinen käufer für diese spezielle „ware“ findet, ist man im prinzip zum verhungern verurteilt. dies ist zwar heute durch den „sozialstaat“ etwas abgefedert, aber der psychische druck, der durch die arbeitslosigkeit erzeugt wird, hat genau darin seine ursache. im grunde bedeutet die existenz von arbeitslosen, dass sie gesellschaftlich ÜBERFLÜSSIG sind. und die arbeitslosen spüren das am deutlichsten. es wird zwar versucht, mit umschulungen, lehrgängen und sonstigem schnickschnack diese grundsätzliche tatsache zu übertünchen, aber jeder teilnehmer solcher „massnahmen“ der jobcenter weiss, dass das nur ein „so tun als ob“ ist.

ich habe keine statistische zahlen und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht, ob das „proletariat“ 50, 60, 70, 80 oder 90% der gesellschaft bildet. es kommt auch drauf an, wo man da die grenze setzt. ein manager im gehobenen bereich ist auch gezwungen, seine arbeitskraft zu verkaufen, ist aber sozial sicher auf der anderen seite der barrikade. durch die entwicklung des dienstleistungssektors hat sich natürlich das verhältnis von industrieproletariat und „kleinen angestellten“ deutlich verschoben. aber auch die kleinen angestellten sind klassenanalytisch „lohnarbeiter“, nur dass sie nicht über das traditionelle „klassenbewusstsein“ und die entsprechenden politischen und gewerkschaftlichen organisationen verfügen.

was die „individualisierung“ betrifft, ist es sicher richtig, dass die (sub)kulturelle bandbreite in „modernen“ gesellschaften sehr hoch ist und weniger von der „klassenzugehörigkeit“ abhängt als das in früheren gesellschaften mit geringerer „horizontaler und vertikaler mobilität“ der fall war. dies hat natürlich auch zu veränderungen innerhalb derjenigen organisationen geführt, die man traditionell der „arbeiterbewegung“ zurechnet: nämlich die gewerkschaften und die „arbeiterparteien“.

die gewerkschaften spielen heutzutage die rolle des co-managements und der partikularistischen interessenvertretung ihrer kernklientel. eine übergeordnete strategie der gesellschaftlichen emanzipation vertreten sie nicht oder sind ihr gar feindlich gesonnen, insbesondere in der bürokratische spitze.

was die „arbeiterparteien“ betrifft, ist es schon schwer, da zu einer definition zu kommen. ist die SPD noch eine „arbeiterpartei“? historisch sicher und sie wird sicher auch noch in iher wählerbasis viele lohnarbeiter haben und auch ihr einfluss in den gewerkschaften ist noch existent. aber heisst das wirklich, dass die SPD (noch) eine „arbeiterpartei“ ist? ich meine, dass es nicht ausreicht, den begriff „arbeiterpartei“ rein soziologisch zu begründen. es muss auch in der politik solcher organisationen ein anspruch zu finden sein, spezifische klasseninteressen (auch wenn das dann nicht so genannt wird) zu vertreten. davon kann bei der SPD definitiv nicht mehr die rede sein. ihre rolle hat die LINKE eingenommen, oder zumindest versucht sie es.

was die identifizierung des einzelnen mit kollektiven „klassenentitäten“ betrifft, scheint mir das in der tat ein wunder punkt in der marxistischen theorie zu sein. es gibt keinen grund, „stolz“ darauf zu sein, angehöriger der arbeiterklasse zu sein. noch kann die arbeiterklasse in der bürgerlicher gesellschaft eine eigene „kultur“ begründen, eben weil sie auch eine unterdrückte klasse ist, und nicht nur ökonomisch sondern auch sozialpsychologisch an die bürgerliche gesellschaft gebunden ist. sie lebt damit in dem permanenten widerspruch, auf der einen seite den kapitalismus als eigene existenzgrundlage verinnerlichen zu müssen, auf der anderen seite in ihren realen lebensmöglichkeiten immer hinter den vorgegeben „normen“ (zb in der werbung) zurückbleiben zu müssen (aus materiellen gründen). so wie das bürgertum nach seinem sieg über den feudalismus die lebensformen des adels versuchte zu kopieren, so versucht das proletariat die lebensformen der bourgeoisie durch einen mallorca-urlaub zu kopieren. da es natürlich selber auf einer unterbewussten ebene merkt, dass sie da einer grossen illuision aufsitzen, kann das ganze nur mit einer gehörigen portion alkohol (und anderer suchtartig betriebener „vergnügungen“) ertragen werden.

FAZIT: der begriff „klasse“ bleibt weiterhin als soziologische als auch als politische kategorie grundlegend. er dient aber nur der objektiven analyse. es sagt nichts über die bewusstseinstrukturen von gesellschaftlichen gruppen als auch einzelpersonen aus. klassenlage und bewusstsein fallen nicht zusammen. „klassenbewusstsein“ kann heute nur als POLITISCHE kategorie begriffen werden. da der ökonomische kampf nicht mehr als „klassenkampf“ begriffen wird, sondern als co-management, kann das rein gewerkschaftliche bewusstsein nicht mehr als „klassenbewusstsein“ bezeichnet werden. klassenbewusstsein entsteht erst dann, wenn die notwendigkeit einer eigenständigen vertretung von „proletarische interessen“ erkannt wird. dies kann heute nur im gegensatz zur gewerkschaftsbürokratie als auch der reformistischen apparate der „arbeiterparteien“ (LINKE sicher, SPD fraglich) geschehen. wie diese notwendige einsicht in die „klassenunbhängigkeit“ der arbeiterInnen erreicht werden kann, diese frage ist noch weitgehend unbeantwortet. der aufbau einer „leninistischen avantgardepartei“ ermöglicht vlt die programmatischen grundlagen dafür zu entwickeln, sie ist aber keine antwort darauf, wie die „vermittlung“ von „programm“ und „Massenbewegung“ geschieht. da man „bewusstsein“ nicht von aussen „herantragen“ kann, kann dieser prozess nur in der „klasse selbst“ stattfinden. dabei werden sich sektoren herausbilden, die sich durch besondere kampfbereitschaft und aneignung politischen wissens auszeichenen. diese „avantgardesektoren“ der arbeiterklasse werden es sein, die für das revolutionäre (übergangs)programm — welches die klassenunbhängigkeit voraussetzt — empfänglich sein werden!

oder anders gesagt: man erkennt den geschmack des puddings erst dann, wenn man ihn ißt 😉 (vergl. http://www.grundrisse.net/grundrisse41/The_proof_of_the_pudding_is_in_the_eating.htm).

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