Nähe, Distanz und Einsamkeit

für R. und K., zwei wunderbaren Menschen, die ich leider nur virtuell kenne

Ein Beitrag zur Poesie der Liebe

Der Liebste ist bei dir inmitten deiner Suche!
Er hält deine Hand wo immer du gehst. –Rumi

in liebesbeziehungen sind die begriffe “nähe und distanz” zentral. während nähe die intimität (das JA) der beziehung zu ausdruck bringt (bis hin zum wunsch der verschmelzung), bedeutet distanz die selbstabgrenzung der individuen in einer beziehung, das “NEIN” in der liebe. beide seite befinden sich in einem dialektischen prozess der wechselseitigen durchdringung und beeinflussung. ein lebendiger prozess, der nicht ohne reibungen und konflikte abgeht.

der begriff “einsamkeit” (wie er insbesondere in der liebespoesie von Rilke ein Rolle spielt), geht noch ein stück weiter, im prinzip ins philosophische, ja eigentlich sogar ins religiöse. aber hier erst einmal ein wunderschönes Gedicht vom Meister selbst:

In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz

In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz.
Denn alle Überflüsse, die ich sah,
sind Armut und armsäliger Ersatz
für deine Schönheit, die noch nie geschah.

Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit
und, weil ihn lange keiner ging, verweht.
O du bist einsam. Du bist Einsamkeit,
du Herz, das zu entfernten Talen geht.

Und meine Hände, welche blutig sind
vom Graben, heb ich offen in den Wind,
so dass sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum

als hättest du dich einmal dort zerschellt
in einer ungeduldigen Gebärde,
und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt,
aus fernen Sternen wieder auf die Erde
sanft wie ein Frühlingsregen fällt.

Rainer Maria Rilke, 25.9.1901

Einsamkeit meint hier aber nicht, dass die angebetete allein ist, keine freunde, bekannte oder familie hat. einsamkeit ist eine existentielle kategorie. es ist die fundamentale erfahrung, dass wir im tiefsten seelengrunde dem SEIN nur vollständig auf uns selbst gestellt gegenübertreten können.

in einer liebesbeziehung ist diese existentielle erfahrung von grundlegender bedeutung. sie bedeutet nämlich, dass wir unsere gefühle für den anderen nicht von unseren ego-wünschen abhängig machen können (denn dies wäre nur die bestätigung dessen, was wir schon kennen), sondern der andere nur dann wirklich in beziehung zu uns treten kann, wenn er sich aus freien stücken offenbart. wenn wir also seine freiheit, sein einzigartiges selbstsein als das höchste schützenswerte Gut in einer liebesbeziehung ansehen. und dazu gehört auch die reife, den schmerz auszuhalten, wenn die entscheidungen des geliebten unser ego tief verletzt. aber auf einer höheren ebene erfüllt sich die liebe auch in der tiefsten egoverletzung, wenn wir die freiheit des anderen akzeptieren und liebend umfangen können.

die liebe ist also nicht ein gefühl, dass dem einzelnen anhaftet, sondern etwas, was zwischen den menschen existiert, eine art “dritter leib”, der nur dann erfahrbar ist, wenn wir uns ganz hingeben und dem selbstgesteuerten lebensprozess vertrauen. sehr schön hat dies Martin Buber ausgedrückt:

“Gefühle wohnen im Menschen, aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher, sondern die Wirklichkeit: die Liebe haftet dem Ich nicht an, so daß sie das Du nur zum »Inhalt«, zum Gegenstand hätte, sie ist zwischen Ich und Du.” — Martin Buber, Ich und DU

[es sei daran erinnert, dass das wort INTERESSE sich zusammensetzt aus inter (zwischen) und esse (sein)]

dieser gedanke ist aber bereits der sprung ins religiös-spirituelle, in den “glauben”. die übersteigerung von eros in agape. diesen sprung können natürlich nur die machen, die bereit sind, alle scheinbaren “sicherheiten” aufzugeben und sich auf die gewissheit des vertraues und des glaubens “ohne grund und boden”, völlig haltlos, einzulassen.

jeder, der die drei worte sagt: “ich liebe dich”, legt eigentlich ein zeugnis davon ab, dass die welt mehr ist als unsere angeblich überlegene rationalität erfahren lässt. der wirkliche weg der erkenntnis geht nach innen, um dann wieder ins aussen zu treten. und nicht umgekehrt, wie der rationalismus (und vulgärmaterialismus) behauptet.

sei der torwächter
der einsamkeit
deiner/s geliebten
wahre schweigend das leuchten
ihrer einzigARTigkeit
und gebe dich mit allem hin
in den kostbaren momenten
wo der andere
sich dir
ganz offenbart

Ein Kommentar zu “Nähe, Distanz und Einsamkeit

  1. Ich mag Dir zu Deinem Gedicht ein Gedicht von 2007 hier einstellen.
    Es ist die „scheinbare“ Einsamkeit, die beide auf ihrem Wege herausfordert – ist der Sprung ins religiös-spirituelle, wenn sie sich darauf einlassen. Es ist ein Gang ins Unbekannte, Ungeahnte. Sie treffen sich, wenn der Zeitpunkt da ist an diesem Kreuzungspunkt. Sie können Ja sagen oder Nein. Beides ist gleichwertig – nondual. Die Entscheidung ist un-wichtig – ohne Gewicht, weil wertungsfrei, eben nondual … und doch ist sie weltbewegend.

    … und gebe dich mit allem hin
    in den kostbaren momenten
    wo der andere
    sich dir
    ganz offenbart.

    dann … sieht er sein

    Spiegelbild

    Im Klang
    ihrer Einsamkeit
    sieht er sein
    Spiegelbild.

    Ein Vogel ruft
    nachttrunken
    in der Ferne.

    Kies knirscht.

    Der Mond
    wirft Muster
    aus Schatten
    und Licht
    auf den
    Weg.

    ©bmh 2007

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