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Nochmals zu den kulturellen Unterschieden patriarchaler Verhältnisse

testeron_taz

es ist schwer mit TaP über geschlechterfragen zu dikutieren, weil er offensichtlich ausserhalb seines ‚materialistischen de-konstruktivmus‘ keinerlei andere ‚wirkebenen‘ zu kennen scheint. (und wenn es sie kennt, benennt er sie nicht).

dabei will ich sein beeindruckendes wissen über feministische theorien und szene-politische zusammenhänge gar nicht in frage stellen, aber es gibt auch eine form von methodischer borniertheit, die zwar sehr gelahrt sein kann, aber trotzdem fernab vom ‚wirklichen leben‘ ist. und diese form von borniertheit scheint sich auch immer wieder in geschlechterpolitischen debatten ausdruck zu verschaffen.

auf meinen hinweis:

[dass] das patriarchat im Iran oder Saudi-Arabien noch mal ne nummer schärfer ist als in der BRD. in Saudi-Arabien dürfen frauen bekanntlich nicht mal autofahren und im Iran kann man wegen ehebruch oder homosexualität gesteinigt oder öffentlich gehängt werden. da finde ich die bezeichnung „archaisch“ geradezu verharmlosend

antwortet TaP:

„Der Kapitalismus in Schweden in den 1960er und 1970er Jahren war auch anders als der Kapitalismus in Griechenland heute oder unter der griechischen Militärdiktatur um 1970 herum. – Sind KommunistInnen deshalb ‚für schwedischen Kapitalismus‘ statt für die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise?“

fällt ihm denn gar nicht auf, dass Iran und Saudi-Arabien zum „islamischen kulturkreis“ (auch wenn ich kein anhänger von Huntington bin), während Schweden, die BRD und Griechenland zum „europäischen“ gehören? ich will jetzt gar nicht mal auf eine diskussion über eine „definition“ dieser „kulturkreise“ hinaus – aber dass es sie gibt, kann man doch schlechterdings nicht ableugnen.

und dass in Kuwait der Frauenanteil unter den Mathematik- oder Informatik Studierenden 72 % beträgt, wahrend er in Deutschland nur 14% oder 23 beträgt, scheint mir auch kein genügender hinweis darauf zu sein, dass in Kuwait die „frauenemanzipation“ schon viel weiter ist als in der BRD.

recht hat er allerdings, wenn er schreibt:

„Auch wenn die kapitalistische Produktionsweise freie und gleiche Rechtssubjekte verlangt und Frauen und Männer jedenfalls in den imperialistischen Metropolen inzwischen weitgehend gleichberechtigt sind – ein Prozeß der in Bezug auf das Zivilrecht in den letzten 45 Jahren stattfand (bürgerl. Rev. und Aufklärung sind deutlich älter); in Bezug auf das Wahlrecht etwas früher -, so kann in der biologistischen Grundierung des Patriarchats [und des Rassismus], die erst mit der „Aufklärung“ aufkam, und der Sphärentrennungs-Ideologie (öffentlich/männlich – privat/weiblich), die es so in vor-kapitalistischen Patriarchaten wegen der abweichenden Funktionsweise der Ökonomie (bäuerlich-häusliche Subsistenzproduktion statt außer-häusliche Lohnarbeit) nicht gab, durchaus als Verschärfung gegenüber vorkapitalistischen Patriarchaten gesehen werden.“

tja, da war meine apologie der aufklärung tatsächlich zu einseitig; allerdings fällt es mir auch schwer zu glauben, dass die situation der frauen im feudalismus z b besser war als im frühkapitalismus. aber solche historischen spekulationen machen eh wenig sinn.

reziproke unterdrückung, weibliche anpassung oder 'matriarchale' gegenmacht? oder alles gleichzeitig?!

reziproke unterdrückung, weibliche anpassung oder ‚matriarchale‘ gegenmacht? oder alles gleichzeitig?!

richtig lustig wird es, wenn er auf meinen satz: ich möchte als linker auch sagen können, dass ich einen bikini besser finde als eine burka

antwortet:

„Ich finde: Das geht Dich als Mann gar nichts an, es sei denn, Du selbst würdest eines von beidem tragen wollen. 🙂 „

nein, darauf würde ich keinen gesteigerten wert legen, da ich an sich kein problem mit meiner männlichen geschlechtsidentität habe. aber darauf kommt es hier in diesem zusammenhang gar nicht an!

  1. bezweifele ich, dass das tragen einer burka oder eines bikini nur vom persönlichen (mode)geschmack der einzelnen frau abhängt. denn beides hat ganz offensichtlich auch einen sexual– oder machtpolitischen zusammenhang. und gerade TaP sollte das wissen.
  2. vielen frauen (ich möchte keine prozentzahl nennen, da das nur spekulativ wäre) ist es nicht egal, wie sie von männern wahrgenommen werden (ungeachtet, was die gründe dafür sein könnten). und es ist sicherlich interessant, dass das im „westlichen kulturkreis“ zu einer tendenziellen zurschaustellung des weiblichen körpers geführt hat, während es im „islamischen kulturkreis“ zu einer tendenziellen verhüllung geführt hat. beides hat aber die selbe grundlage: das männliche (sexuelle) begehren.

meine präferenz für den bikini ist daher keine frage des ‚persönlichen geschmacks‘, sondern ein teil meiner männlichen identität oder leidenschaften (im sinne Fouriers). wer diesen unterschied nicht begreift (auch wenn ich eine solche [asexuelle] haltung auf einer persönlichen ebene natürlich respektiere), der mag vlt hochelaborierte szene-diskurs-papiere verfassen, er wird aber niemals mehrheiten für irgendetwas gewinnen – und in der politik kommt nun mal letztlich auf (qualifizierte) mehrheiten an.

es war richtig von Schilwa, ‚linke denktabus‘ an den pranger zu stellen, auch wenn seine politischen schlussfolgerungen alles andere als glücklich sind. (da hat TaP wiederum viel richtiges zu gesagt).

meines erachtens — und ich weiss, dass das schwer ist — müssen in der „Köln-Debatte“ mehrere fallstricke vermieden werden:

— es darf natürlich nicht vor der rechts-populistischen instrumentalisierung kapituliert werden

— es darf aber auch keine bagatellisierung der Taten stattfinden

— die linke darf nicht so tun, als hätte sie ein völlig widerspruchsfreies weltbild und alle, die das nicht haben, wären blöde

— im gegenteil müsste mit diesen widersprüchen produktiv umgegangen und offen diskutiert werden, anstatt denkverbote und (moralistische) verdikte auszusprechen

dann könnte es vielleicht ein bisschen bessser gelingen, ein stück weit ‚linke hegemonie‘ zu erringen – anstatt dass leute in ihren jeweiligen szenen im eigenen saft mehr oder weniger sinnlos dahinschmoren, ohne jede aussicht auf wirkliche erfolge.

 

 

 

20 Kommentare zu “Nochmals zu den kulturellen Unterschieden patriarchaler Verhältnisse

  1. fällt ihm denn gar nicht auf, dass Iran und Saudi-Arabien zum “islamischen kulturkreis” (auch wenn ich kein anhänger von Huntington bin), während Schweden, die BRD und Griechenland zum “europäischen” gehören?

    Doch, doch – das fällt mir schon auf. Nur ging es mir an der Stelle ja nur um den Vergleich zwischen dem Umgang mit unterschiedlichen Fällen von Kapitalismus und unterschiedlichen Fällen von Patriarchat.

    Ich hätte bei den ‚Kapitalismus-Fällen‘ z.B. auch Indonesien (statt Griechenland) nehmen können, wenn auch unter diesen ein islamisch geprägtes Land dabei sein soll.

    und dass in Kuwait der Frauenanteil unter den Mathematik- oder Informatik Studierenden 72 % beträgt, wahrend er in Deutschland nur 14% oder 23 beträgt, scheint mir auch kein genügender hinweis darauf zu sein, dass in Kuwait die “frauenemanzipation” schon viel weiter ist als in der BRD.

    Das habe ich ja auch nicht gesagt; ich habe nur gesagt, daß ich auch von der gegenteiligen Hypothese (auch wenn sich für sie spontan krasse Beispiele anführen lassen) nicht überzeugen bin, ohne daß ich dazu eine Untersuchung gemacht habe oder daß Du oder Micha Schilwa oder wer/welche auch immer fundierte, methodisch abgesicherte, vorurteilskritische Ländervergleichsstudien anführen.

    bezweifele ich, dass das tragen einer burka oder eines bikini nur vom persönlichen (mode)geschmack der einzelnen frau abhängt. denn beides hat ganz offensichtlich auch einen sexual– oder machtpolitischen zusammenhang.

    Ja. Aber vergeschlechtliche Kleidungsnormen gibt es in allen Varianten von Patriarchat – und sie sind so machtvoll besetzt, daß Du gleich an Deiner Geschlechtsidentität zweifeln würdest – wie Du schreibst -, wenn Du einen Bikini oder eine Burka anziehen würdest.

    meine präferenz für den bikini ist daher keine frage des ‘persönlichen geschmacks’, sondern ein teil meiner männlichen identität oder leidenschaften

    Ja, das liegt ja auf der Hand, daß (fast) alle Leute Präferenzen dafür haben, was für Klamotten an ihnen selbst und an anderen gefallen und, daß diese Präferenzen auch mit Vorstellungen von erotischer Attraktivität verbunden sind.

    Aber: Patriarchat heißt eben auch, daß Frauen weitaus mehr als Männer und in den unpassendsten Situationen (von Männern, aber teils auch untereinander) auf ihre sexuelle Attraktivität hin begutachtet werden und diese ‚Begutachtungs-Ergebnisse‘ auch ständig ungefragt auf’s Brot geschmiert bekommen. Und das nervt viele Frauen – auch wenn sie keine oder keine besonders radikalen Feministinnen sind,

    weil sie praktisch keinen Moment nur als kompetente (oder auch inkompetente) Kollegin, kämpferische (oder auch zaghafte) Genossin oder was auch immer, sondern immer auch (und nur allzu oft: ausschließlich) als potentielle Sexpartnerinnen wahrgenommen werden.

  2. @“weil sie praktisch keinen Moment nur als kompetente (oder auch inkompetente) Kollegin, kämpferische (oder auch zaghafte) Genossin oder was auch immer, sondern immer auch (und nur allzu oft: ausschließlich) als potentielle Sexpartnerinnen wahrgenommen werden.“

    aber meinst du nicht, dass das den (meisten) frauen eh klar ist und sie sich damit arrangiert haben (ausserdem muss sich das im konkreten umgang auch nicht immer so eindeutig auswirken)? und wenn dem nicht so wäre, den sextrieb, die triebkonstution, der naturanteil im menschen, die Macht des Sexus, können auch dekonstruktivistische feministen nicht abschaffen – aber das weisst du sicher auch, denn ich glaube nicht, dass du bock hast, gegen windmühlen zu kämpfen 🙂

  3. artikel von Angela Klein (isl):

    „Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft in anderer Hinsicht patriarchalisch ist als etwa die nordafrikanische bedeutet nicht, dass die Stellung der Frau darin dieselbe wäre. In unserer Gesellschaft profitieren Frauen immer noch vom jahrzehntelangen Kampf der neuen Frauenbewegung, der u.a. dazu geführt hat, dass sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung in der Ehe strafbar sind und männliche Verhaltensweisen massiv hinterfragt wurden. Vergleichbares konnten die arabischen Frauen in ihren Ländern bislang nicht durchsetzen. Gewalt gegen Frauen (und gegen Kinder!) nimmt allerdings auch bei uns zu, und das hat mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Verwahrlosung zu tun.“

    obwohl die autorin das schreibt, sieht sie trotzdem keine „kulturellen ursachen“. mir erscheint das nicht stringent zu sein – trotzdem ein lesenswerter artikel–> http://www.sozonline.de/2016/02/das-nein-der-frau-muss-reichen/

    • Vielleicht ist die entscheidende Differenz gar nicht, ob es auch „kulturelle
      Ursachen“ gibt.

      Daß es auch „kulturelle Ursachen“ gibt, ist ja mit dem feministischen Begriff der
      rape culture schon gesagt:

      dt.: https://de.wikipedia.org/wiki/Rape_Culture

      engl. (deutlich ausführlicher): https://en.wikipedia.org/wiki/Rape_culture

      Die Frage ist vielleicht eher, wie „Kultur“ gedacht / analysiert werden sollte. –

      In dem Zusammenhang vllt. auch interessant (ist aber schon länger her, daß ich die
      Texte gelesen habe; sind leider beide m.W. auch nicht auf Deutsch erscheinen):

      V. Spike Peterson, Sexing political identities. Nationalism as heterosexism (auf S.
      40 f. und 45 – 51 sowie in den FN 15 f. und 24 zu Vergewaltigungen)

      Klicke, um auf peterson-nationalism-as-heterosexism-journal-ocr.pdf zuzugreifen

      und

      dies., The politics of resistance. Women as nonstate, antistate and transstate actors

      Klicke, um auf peterson-nonstate-antestate-transstate.pdf zuzugreifen

      • es geht aber nicht nur um vergewaltigungen und/oder sexualisierte gewalt, sondern das FRAUENBILD im „islamischen kulturkreis“ ist ja ein anderes (archaischeres) als im „europäischen“. und dies zu leugnen hat auch nichts mit „links“zu tun, sondern ist ausdruck dessen, was Schilwa als „linke denktabus“ versucht hat zu kritisieren.

        [edit: ich bin mir natürlich im klaren darüber, dass der begriff „kulturkreis“, neben der quellenkritischen lage, auch eine gewisse tendenz zur pauschalisierung hat. aber ohne verallgemeinerungen scheint mir eine politische theorie schlechterdings nicht möglich zu sein. alles, was über den einzelnen hinausgeht und „Massen[gruppen]phänomen“ sein soll, wird auch immer „ungerechte“ verallgemeinerungen enthalten. wer das nicht will, sollte auch keine politik machen wollen.]

  4. dagegen meines erachtens richtig:

    „Ihre [die organisationen der arbeiterInnenbewegung] Aufgabe ist es, rückschrittliche und frauenfeindliche Tendenzen in Migrant/inn/enmilieus nicht als kulturelle Vielfalt zu behübschen, sondern offen anzusprechen und nachdrücklich zu bekämpfen. Relativierungen nach dem Motto „naja, frauenfeindliche Männer gibt´s sowohl bei Einheimischen als auch Osteuropäern oder Muslimen” stimmen natürlich in dieser Allgemeinheit, sie verschleiern aber die konkreten Ausmaße, stehen in Widerspruch zu den Erfahrungen vieler Frauen und zur konkreten Situation.

    Und solche Relativierungen verhöhnen letztlich auch die Frauen aus traditionell islamischen Familien, die aus ihrer Lage ausbrechen wollen und regelrechtem, oft gewalttätigem und manchmal mörderischem Terror durch Familien und Milieus ausgesetzt sind. Sie verhöhnen die lohnabhängigen Frauen in vielen arabischen Städten, die auf dem Arbeitsweg in öffentlichen Verkehrsmitteln sexuellen Übergriffen in einem Ausmaß ausgesetzt sind, das man sich in Europa kaum vorstellen kann. Sie verhöhen die Frauen, die unter lebengefährlichen Bedingungen in Afghanistan, Pakistan, Saudi-Arabien oder Syrien für Frauenrechte eintreten.

    Dass frauenfeindliche Haltungen in manchen Zuwanderergruppen stärker vertreten sind, ist klarerweise nicht genetisch bedingt. Es hat vielmehr soziale und kulturelle Gründe. Sämtliche Religionen, die ja alle vor langer Zeit entstanden sind, beinhalten ein sehr rückständiges Frauenbild. Im Christentum hat sich das durch die gesellschaftliche Modernisierung in den Industrieländern teilweise etwas abgeschwächt (obwohl die Evangelikalen in den USA oder konservative Strömungen im Katholizismus immer noch mittelalterlich wirken und obwohl die katholische Kirche gerade in Sexualfragen eine eigene Kriminalgeschichte hat). In ökonomisch und sozial rückständigeren Ländern sind auch die Religionen noch rückschrittlicher geblieben – etwa der Hinduismus oder eben der Islam.

    Die Hauptströmungen des Islam sehen Frauen als Besitz des Mannes und/oder als Bedrohung für seine Moral. In dieser Logik müssen die Frauen dann verschleiert herumlaufen und von den Männern der Familie kontrolliert werden. Angesichts der rigiden Sexualmoral in den islamischen Ländern (und auch aufgrund der wirtschaftlich immer schwierigeren Familiengründung) sind sexuelle Beziehungen für junge Menschen kaum möglich – und wird in der Folge nirgends auf der Welt so viel Internet-Pornographie konsumiert wie in den arabischen Staaten. Da sind dann westliche Frauen zu sehen, die jederzeit, mit jedem und auch mit mehreren Sex gleichzeitig haben wollen. Mit diesem kulturellen Hintergrund und diesen Bildern am Handy und im Kopf sind im vergangenen Jahr etwa eine Million alleinreisende junge arabische oder afghanische Männer in Europa angekommen. Natürlich sind die allermeisten keine Vergewaltiger, aber viele bringen die beschriebenen Haltungen gegenüber Frauen mit… und das wird weiter zu Konflikten führen.“
    http://linkezeitung.de/2016/01/30/sexuelle-uebergriffe-islamisierung-und-die-arbeiterinnenbewegung/

  5. @ Februar 1, 2016 um 11:18 vormittags:

    das FRAUENBILD im “islamischen kulturkreis” ist ja ein anderes (archaischeres) als im “europäischen”

    Ich denke, wir kommen jedenfalls nach 500 Jahren kolonialer und neokolonialer Beherrschung und Beeinflußung des Trikonts durch weiße EuropäerInnen mit dem Ausdruck „archaisch“ nicht besonders weit.

    Und daß der Marxismus sowohl von Kautsky als auch von Stalin ultra-evolutionistisch / geschichtsdeterministisch gedreht wurde (in der Kritik daran sind wir uns ja, glaube ich, einig), ist m.E. auch nicht ein bloßer Irrtum der beiden, sondern hat auch Anknüpfungspunkten in manchen – gelinde gesagt: zweideutigen – Formulierungen von Marx und Engels, die einer selbstkritischen Aufarbeitung durch MarxistInnen bedürfen:

    also weg vom „Geschichtsfahrplan“ hin zur Kontingenz des Kampfes der Widersprüche. –

    Aber ich mache jetzt erst einmal mit Teil II. meiner Antwort auf Schilwa weiter.

  6. ich vertrete keinen „geschichtsfahrplan“, ich meine allerdings, dass es unterschiedliche stufen der bewusstseinsevolution (auch der kulturen gibt). und die islamisch geprägten länder (womit ich keine aussage über die religion treffen möchte) befinden sich in einem zustand — cum crano salis gesprochen — der „voraufklärung“. dies scheint mir so offensichtlich zu sein, dass es mir ehrlich gesagt schwerfällt, zu verstehen, wieso es da überhaupt diskussionsbedarf geben kann. was anderes ist natürlich die frage nach den politischen konsequenzen und der einfluss des (neo)kolonialismus soll natürlich auch nicht bestritten werden – aber trotzdem müssen wir ja mit den aktuellen problemen auch konkret umgehen. da helfen „historische“ hinweise, so berechtigt sie sein mögen, wirklich nicht viel weiter …..

    • Also, mir ist der Ausdruck „islamische Aufklärung“ schon mal untergekommen ist. Ob er tragfähig ist, weiß ich nicht. Die Wikipedia spuckt dazu aus:

      [Reinhard] Schulze [mit mir weder verwandt noch verschwägert] fordert eine „kulturtheoretische Neubestimmung“ der deutschen Islamwissenschaft. Kultur sei heute „der Ordnungsbegriff par excellence“. Er vertritt die These einer „islamischen Aufklärung“, die er 1990 erstmals in seinem Artikel „Das islamische 18. Jahrhundert. Versuch einer historiographischen Kritik“ formulierte und in seinem Aufsatz „Was ist die islamische Aufklärung?“ von 1996 nochmals verteidigte.
      Zu Beginn seines letztgenannten Aufsatzes verweist Reinhard Schulze auf die im Bewusstsein der Öffentlichkeit weit verankerte These, der Islam kenne keine Aufklärung. Durch diese Negativabgrenzung des Islam von der Moderne erscheint die Aufklärung im Kontext aktueller Diskussionen „wie ein Sammelbegriff für eine kulturelle Identität, die im Rahmen eines evolutionär gedachten Kulturverständnisses den höchsten Entwicklungspunkt markiert“, woran der Islam aber keinen Anteil habe. Dieser These will Schulze entgegentreten, nicht indem er das Gegenteil behauptet, der Islam kenne sehr wohl eine Aufklärung, sondern indem er mithilfe von Strukturanalogien zwischen dem islamischen und dem europäischen 18. Jahrhundert aufzeigen möchte, dass zu jener Zeit in der islamischen Welt im 18. Jh. autochthone historiographische Traditionen vorhanden gewesen seien, die eine Aufklärung auch in der islamischen Welt möglich gemacht hätten. Doch Napoleons Ägyptenfeldzug 1798 und die folgende Kolonialisierung der islamischen Welt markierten einen „Bruch“ dieser autochthonen Traditionen, die nun keine Durchschlagskraft mehr in der islamischen Welt entwickeln konnten. Im globalen Diskurs über die Moderne gilt seither für muslimische Intellektuelle die Zuschreibung: „Das faktische Aufgeklärt-Sein der ‚orientalischen Diskussionsteilnehmer‘ wird in guter alter kolonialer Manier als ‚Leihgabe des Westens‘ an die islamische Welt interpretiert.“ Als Grundlagen für einen Aufklärungsprozess, wie er sich in Europa vollzogen hat, bestimmt Schulze folgende vier Voraussetzungen:

      eine Korrelation zwischen monistischer Mystik und Rationalität,
      den Wandel von einer zweidimensionalen, theozentrischen zu einer eindimensionalen, anthropozentrischen Weltsicht,
      den Willen, neu, originär und zugleich originell sein zu wollen,
      die Emanzipation des Bürgertums und die Herausbildung der sozialen Dichotomie von citoyen und bourgeois.

      Diese Voraussetzungen erblickt er für Europa im Pietismus, in der Mystik und im rationalistischen Empirismus und meint, sie strukturanalog auch in der islamischen Tradition gefunden zu haben, welche er in seinem Aufsatz darstellt.

      https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Schulze#Islamische_Aufkl.C3.A4rung

      Siehe dort auch noch das Stichwort „Orientalismus“:

      https://de.wikipedia.org/wiki/Orientalismus

  7. das ist wirklich interessant. und das erscheint mir auch plausibel (obwohl ich keine ahnung habe, was im 18. jahrhundert los war). schliesslich war ja die wissenschaft in den islamischen ländern zur zeit des europäischen mittelalters sehr weit fortgeschritten und auch die politische toleranz (gegen andere religionen) war vorhanden.
    insofern könnte man den zeitgenössischen islamismus als reaktionären backlash [konservative revolution] in abhängigkeit von der wirkungsgeschichte des kolonialismus und imperialismus auffassen. das macht sinn … das sollte man als ansatz im hinterkopf behalten.

  8. hier ein älterer RSO artikel, der methodisch zu dieser „Schulze-Richtung“ passen könnte:
    http://www.sozialismus.net/content/view/1974/1/

    „Die gesamte Geschichte des Nahen Ostens ist seit dem Beginn des Kolonialismus bis heute von diesen Interventionen [ausländischer Mächte] geprägt. Welches Regime steht, welches fällt, dass hängt untrennbar mit den Interessen industriell und politisch mächtiger Staaten zusammen. Schlimmer noch: Welche Massaker verhindert werden und welche nicht, dass bestimmt in der derzeitigen weltpolitischen Realität das politische Interesse dieser Nationen. Diese (fremde) Macht über das eigene Schicksal abzuschütteln ist ein unglaublich wichtiger Aspekt des anti-kolonialen Appeals des IS.[8]

    Denn das koloniale Gewicht ist real fühlbar. Es ist nicht nur eine abstrakte Gewalt, die in ihrer Entmenschlichung durch den Drohnen-Terror am Himmel symbolisch auf den Punkt gebracht wird. Es ist das konkrete Erleben, dass das Menschsein maßgeblich von dieser Macht abhängt, welches das Denken der „Kolonisierten“[9] bestimmt.

    Mit dieser Feindschaft zum Kolonialismus wird auch die Abkehr von den westlichen Werten und Vorstellungen verständlich. Sie erklärt die religiös-fundamentalistische Ideologie des IS, die eine Hinwendung zu tradierten Vorstellungen, eine Flucht in kulturelle Sicherheit, ist. Sie ist aber auch eine Selbst-Ermächtigung gegenüber denjenigen, die mit ihren westlichen Werten (ihrer „humanitärer Intervention“) ihre Ausbeutungs- und Zerstörungs-Regime rechtfertigen. Rechtmäßig, als Mensch, die eigenen Werte aufnehmen ist bereits eine erste Auflehnung gegen diese „westliche Welt“[10] – auch wenn es in die autoritäre Herrschaft des IS führt.“

    [10]Frantz Fanon:

    “Die Gewalt, mit der die Vormacht der weißen Werte durchgesetzt, und die Agressivität, welche den Sieg dieser Werte über die Lebensweise und Gedanken des Native[n] durchdrungen hat, bedeuten, dass der Native, aus Rache, in höhnisches Lachen ausbricht, wenn die westlichen Werte vor ihm erwähnt werden. Im kolonialen Kontext beendet der Settler [Siedler] seine Arbeit den Native[n] zu brechen erst dann, wenn Letzterer laut und verständlich die Vormacht der weißen Werte verkündet. In der Periode der Dekolonisierung, verhöhnen, beleidigen und erbrechen die kolonisierten Massen eben diese Werte.“

  9. Edith Bartelmus-Scholich (scharf-links) hat auf facebook einen kommentar zum TaP-artikel geschrieben, dem ich mich nur absolut anschliessen kann:

    „Es lohnt sich immer TaP zu lesen, aber trotzdem denke ich, dass Michael Schilwa mit dem ersten Teil seines Textes ziemlich richtig liegt. Es gibt unterschiedliche Formen von Frauenunterdrückung und die Unterschiede sind ökonomisch, historisch und kulturell bedingt. Auch männliches Handeln gegenüber Frauen findet nicht im luftleeren Raum, sondern im gesellschaftlichen Kontext statt. Und, ja, die Frauenunterdrückung in nordafrikanischen und arabischen Staaten, Gesellschaften und Familien ist härter und schmerzhafter für Frauen als die Formen, mit der wir leider immer noch konfrontiert sind. In allen diesen Staaten und Gesellschaften haben Frauen mindere Rechte und einen minderen Status. Sie sind regelmäßig Übergriffen ausgesetzt, wenn sie sich ohne männliche Begleitung im öffentlichen Raum bewegen. Wer leichtfertig alle Frauenunterdrückung relativierend für gleichermaßen schlimm erklärt, hat nicht begriffen, was die Frauenbewegung und andere fortschrittliche Kräfte in den letzten Hundert Jahren bei uns und in anderen liberalen Gesellschaften schon erreicht haben. Es wird damit auch die Frauenunterdrückung im Nahen Osten, im Maghreb in in weiteren Weltregionen klein geredet. Das ist besonders falsch, denn die Frauen dort benötigen unsere Solidarität. Faktisch müsste jede Frau, die von dort zu uns einreist, schon aus dem Grund bei uns Asyl bekommen, dass sie eine Frau ist. Als solche ist sie in ihrer Heimat nämlich jedenfalls unterdrückt und diskrimiert.
    Einen Aspekt hat aber TaP sehr gut herausgearbeitet: Die meisten Linken sind mit ihren Kommentaren zu den Ereignissen von Köln wieder in die altbekannten Schemata verfallen: Frauenunterdrückung hat immer noch den Stellenwert eines Nebenwiderspruchs. Es mutet an, als ob die Debatten der letzten Jahrzehnte an vielen spurlos vorbei gegangen sind.“
    [https://www.facebook.com/EdithBS/posts/10205251227831342]

  10. „die Frauen dort benötigen unsere Solidarität. Faktisch müsste jede Frau, die von dort zu uns einreist, schon aus dem Grund bei uns Asyl bekommen, dass sie eine Frau ist. Als solche ist sie in ihrer Heimat nämlich jedenfalls unterdrückt und diskrim[in]iert.“

    Dem würde ich mich auf alle Fälle anschließen. Allerdings sind auch die ohnehin hier schon lebenden Frauen und Frauen, die aus anderen Ländern hier herkommen, hier weiterhin als Frauen „diskriminiert“ (patriarchal beherrscht und ausgebeutet).

    Und wie immer in Sachen in internationaler Solidarität würde ich auch im vorliegenden Zusammenhang sagen: Die beste Solidarität ist – neben Informationsaustausch und gemeinsamer Diskussion – den Feind, im eigenen Land, im vorliegenden Fall: das hiesige Patriarchat zu bekämpfen.

  11. „Es gibt unterschiedliche Formen von Frauenunterdrückung und die Unterschiede sind ökonomisch, historisch und kulturell bedingt. Auch männliches Handeln gegenüber Frauen findet nicht im luftleeren Raum, sondern im gesellschaftlichen Kontext statt.

    Ja, ich stimme zu.

    „Und, ja, die Frauenunterdrückung in nordafrikanischen und arabischen Staaten, Gesellschaften und Familien ist härter und schmerzhafter für Frauen als die Formen, mit der wir leider immer noch konfrontiert sind.

    Ich weiß nicht. Kann ich das von hieraus messen? Was sagen dort lebende Frauen zu dieser Hypothese? Gibt es wissenschaftliche ‚vergleichende Patriarchalitäts-Messungen‘? Ist es vielleicht für Frauen, die im hiesigen Patriarchat sozialisiert wurden, schwierig mit dem islamischen Patriarchat zurechtzukommen und umgekehrt – weil Anpassungs-, Ausweich- und Widerstandsstrategie, die in denen einen Gesellschaftsformationen entwickelt wurden, in den anderen nicht ohne weiteres funktionieren?

    In allen diesen Staaten und Gesellschaften haben Frauen mindere Rechte und einen minderen Status. Sie sind regelmäßig Übergriffen ausgesetzt, wenn sie sich ohne männliche Begleitung im öffentlichen Raum bewegen.

    Ein grundlegender Aspekt der marxschen Kapitalismusanalyse ist den Übergang von personaler Herrschaft (bei rechtlicher Ungleichheit) in den vor-kapitalistischen Produktionsweisen zu (ver)sachlich(t)er Herrschaft (bei juristischer Freiheit und Gleichheit) in der kapitalistischen Produktionsweise herausgearbeitet zu haben.

    Etwas Ähnliches, scheint mir, ist in den westlichen Ländern in letzten Jahrzehnten in Bezug auf das Geschlechterverhältnis passiert: Die rechtliche Ungleichheit wurde weitgehend abgebaut, aber das Patriarchat bleibt.

    Auch wenn wir MarxistInnen geneigt sind, die Versachlichung von Herrschaft in eine fortschrittsoptimistische Geschichtsphilosophie einzubetten, und wenn uns bürgerliche Revolutionen gegen feudale Verhältnisse sympathisch sind, bin ich mir nicht sicher, daß dies einen „schlimmer“/“weniger schlimm“-Vergleich trägt. Und dito in Bezug auf islamisches und christlich/säkulares Patriarchat.

    Wer leichtfertig alle Frauenunterdrückung relativierend für gleichermaßen schlimm erklärt, hat nicht begriffen, was die Frauenbewegung und andere fortschrittliche Kräfte in den letzten Hundert Jahren bei uns und in anderen liberalen Gesellschaften schon erreicht haben.

    Ich habe vor allem gegen das Pronomen „uns“ und gegen das „schon“ Bedenken:

    ++ Auch das Patriarchat unter Muammar al-Gaddafi in Libyen und Saddam Hussein im Irak sah anders aus, als es heute dort aussieht; und in den von Assad beherrschten Teilen Syriens zieht es weiterhin anders aus als in den von IS und FAS beherrschten Gebieten Syrien.

    ++ Und daran, daß es diese säkular-islamischen (diese Länder blieben ja auch unter den genannten Herrschern weiterhin von islamischen Religion und Kultur geprägt) nicht mehr gibt, haben die hiesigen Länder einen gerüttelten Anteil…

    Was ich, vielleicht nur sagen möchte, ist: Wir sollten uns vor einem essentialistischen Kulturverständnis (‚Das Wesen des Islams…‘ / ‚Das Wesen westlicher Gesellschaften…‘) hüten und wirklich die historischen und gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren von „Kultur“ in den Blick nehmen.

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